In der Welt des Fußballs war Deutschland lange als Talentschmiede bekannt: Spieler wie Lahm, Schweinsteiger, Müller oder Kroos waren Paradebeispiele für eine funktionierende Nachwuchsförderung.
Doch diese Zeiten scheinen vorbei. Spätestens seit den enttäuschenden Auftritten der A-Nationalmannschaft bei großen Turnieren und dem Rückstand deutscher U-Teams im Vergleich zu ihren internationalen Konkurrenten wächst die Sorge: Deutschland verliert den Anschluss. Im Transfermarkt-Interview liefert der ehemalige Bundesliga-Trainer Alexander Nouri nun eine präzise Analyse, warum der deutsche Fußball-Nachwuchs hinterherhinkt – und welche strukturellen und kulturellen Veränderungen nötig sind, um wieder aufzuschließen.
Ein Blick auf den Ist-Zustand – und auf die Person Alexander Nouri
Alexander Nouri, geboren in Buxtehude und bekannt als Trainer u. a. von Werder Bremen und Hertha BSC, ist Mitgründer von International Football Concepts (IFC), einer Plattform zur Analyse von Talententwicklung weltweit. Gemeinsam mit seinem Team hat Nouri über 15.000 Karriereverläufe aus zwölf Nationen ausgewertet. Die Bilanz ist eindeutig: Der deutsche Nachwuchs wird seinen Möglichkeiten derzeit nicht gerecht.
„Wir haben eine enorme Anzahl an Jugendlichen in unseren Nachwuchsleistungszentren, doch zu wenige schaffen den Sprung in den Profibereich“, konstatiert Nouri. Während Deutschland mit rund 83 Millionen Einwohnern einen riesigen Talentpool hat, kommen in strukturellen Schlüsselbereichen entscheidende Defizite zum Tragen.
Zu frühe Selektion: Wenn Potenzial zu schnell aussortiert wird
Eines der zentralen Probleme: die frühe Selektion im Nachwuchsbereich. In Deutschland werden Spieler häufig bereits im U13- oder U14-Bereich kategorisiert und aussortiert, wenn sie nicht den unmittelbaren physischen oder technischen Erwartungen entsprechen. „Das ist ein kardinaler Fehler“, so Nouri. Denn Talententwicklung verläuft nicht linear – spätere Entwicklungen, psychologische Reife oder das Wachstum können Spieler zu einem späteren Zeitpunkt hervorbringen, wenn sie zuvor nicht aus dem System gedrängt worden wären.
Internationale Vorbilder gehen hier anders vor. In Frankreich oder Spanien ist Geduld Teil der Ausbildungsphilosophie. Dort wird mehr Zeit eingeräumt, auch um Umwege in der Entwicklung zuzulassen. Junge Spieler durchlaufen häufiger individuell angepasste Pfade, statt an einem starren Raster zu scheitern.
Herrenfußball kommt zu spät: Der Bruch zwischen U19 und Profi
Ein weiteres zentrales Problem ist der fehlende Übergang in den Herrenbereich. Laut Nouri zeigt die IFC-Studie, dass Spielzeit im Erwachsenenfußball – auch in unteren Ligen – ein entscheidender Faktor für spätere Profikarrieren ist. Im internationalen Vergleich haben deutsche Talente jedoch zu wenig Erfahrung auf diesem Niveau, bevor sie in die Bundesliga oder 2. Liga aufrücken sollen.
Ein prägnantes Gegenbeispiel ist Eduardo Camavinga: Der französische Nationalspieler stand bereits mit 15 Jahren im Kader des dritten Herren-Teams von Stade Rennes. Heute ist er Stammkraft bei Real Madrid – mit 22 Jahren und bereits über 200 Pflichtspielen auf höchstem Niveau. In Deutschland hingegen scheuen sich viele Vereine, Jugendlichen früh Verantwortung im Männerbereich zu übergeben.
Nouri betont: „Wir müssen Spieler früher mit der Realität des Männerfußballs konfrontieren. Körperlichkeit, Geschwindigkeit und Druck lassen sich im Juniorenbereich nicht simulieren.“ Eine gezielte Integration von U17- und U19-Spielern in Herrenmannschaften – etwa über strategisch gesteuerte Leihen oder U23-Projekte – ist essenziell.
Regionale Blindspots und vakante Positionen
Ein unterschätzter Aspekt ist die ungleiche Verteilung der Förderstrukturen. Während Ballungszentren wie Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Baden-Württemberg gut ausgebaute Nachwuchsleistungszentren (NLZ) bieten, existieren in Regionen wie Thüringen, Sachsen-Anhalt oder Schleswig-Holstein deutliche Lücken. Die Folge: Talente in diesen Regionen fallen durchs Raster oder wandern früh ab – oft mit schwierigen sozialen oder schulischen Folgen.
Hinzu kommt: Deutschland bildet bestimmte Spielertypen systematisch zu wenig aus. Schnelle, dynamische Flügelspieler etwa fehlen auffällig im Nachwuchsbereich – ein Problem, das sich auf höherem Niveau bemerkbar macht. Auch technisch brillante, risikofreudige Offensivspieler mit Kreativdrang bleiben Mangelware. „Wir haben zu viele Spieler, die systemtreu agieren, aber zu wenige, die ein Spiel individuell prägen können“, so Nouri.
Kurzfristdenken statt Langfriststrategie – ein deutsches Kulturproblem
Ein fundamentaler kultureller Unterschied zu erfolgreichen Nationen liegt im Denken der Vereine und Trainer. In Deutschland zählt häufig der kurzfristige Erfolg – etwa das Abschneiden in der Junioren-Bundesliga – mehr als langfristige Entwicklung. Nouri nennt das ein „absolutes Kulturthema“. Oft ist es karriereschädigend für Jugendtrainer, wenn sie Talente fördern, aber keine Titel holen. Die Folge: Entwicklungsziele treten hinter Ergebniserwartungen zurück.
In Ländern wie Portugal, den Niederlanden oder Frankreich wird hingegen bewusst mit langfristigen Plänen gearbeitet. Ausbildungsphilosophie, pädagogische Leitlinien und Übergangsmodelle sind dort strategisch verankert – Erfolge auf Juniorenebene spielen eine untergeordnete Rolle.
Internationale Vorbilder – was andere Nationen besser machen
Ein Blick auf Benfica Lissabon, Stade Rennes oder Real Sociedad zeigt, wie eine moderne, ganzheitliche Nachwuchsförderung funktionieren kann. Trotz begrenzter finanzieller Mittel bauen diese Vereine systematisch auf eigene Talente. Real Sociedad etwa bedient sich fast ausschließlich aus der Region Gipuzkoa mit nur rund 700.000 Einwohnern – über 60 % des Profikaders stammen aus der eigenen Akademie.
Der Werdegang von Mikel Oyarzabal ist exemplarisch: U17-Ausbildung bei Real Sociedad, gezielte Leihe zu SD Eibar in die 2. Liga, Rückkehr mit Erfahrung – heute Nationalspieler. Laut Nouri wären solche Wege in Deutschland oft an elterlicher Ablehnung gescheitert. „Leihen gelten hier als Degradierung. Dabei sind sie ein Werkzeug zur Reifung.“
Ein weiteres Vorbild: Benfica Lissabon. Der Klub betreibt acht dezentrale Talentzentren im ganzen Land, in denen über 500 Nachwuchsspieler betreut werden. Das dezentrale Modell erlaubt Talentsichtung auch in ländlichen Gegenden und reduziert soziale Barrieren.
Positive Tendenzen – es tut sich etwas in Deutschland
Doch es gibt Hoffnung. In den letzten Jahren haben DFB und DFL erkannt, dass Veränderungen notwendig sind. Das neue „DFB-Talentförderprogramm 2024+“ legt verstärkt Wert auf individuelle Entwicklung, Spielintelligenz und Übergangsmodelle. Erste Erfolge zeigen sich: Die Zahl der Wechsel von Jugendlichen zwischen NLZs ist laut IFC-Analyse um 40 % gesunken – Vereine binden ihre Talente länger und geben ihnen Zeit.
Auch Leihstrategien gewinnen an Bedeutung: Vereine wie der SC Freiburg oder der 1. FC Köln setzen gezielt U23-Spieler im Herrenbereich ein, statt sie im Juniorensystem versauern zu lassen. Zudem planen immer mehr Klubs eigene U23-Teams als Brücke zum Profifußball – trotz der Herausforderungen in der 3. Liga.
Was Deutschland jetzt tun muss
- Geduld zeigen: Talente dürfen nicht zu früh aussortiert werden. Entwicklung ist individuell – nicht jeder ist mit 16 schon fertig.
- Herrenfußball forcieren: Junge Spieler brauchen früher Minuten im Männerbereich, auch in Regionalligen oder 3. Liga.
- Regionen erschließen: Der Aufbau von Förderstrukturen in strukturschwachen Bundesländern muss zur nationalen Aufgabe werden.
- Kultur ändern: Trainer und Vereine müssen langfristig denken dürfen – und dürfen für Entwicklungsarbeit nicht bestraft werden.
- Strategische Leihen: Nachwuchsspieler sollten gezielt in passende Mannschaften verliehen werden – als Entwicklungsinstrument, nicht als Strafe.
Vom Rückstand zur Renaissance?
Deutschlands Fußball-Nachwuchs steckt in einem strukturellen Umbruch. Viele Fehler der Vergangenheit – zu frühe Selektion, fehlende Übergänge, kulturelles Kurzfristdenken – haben sich summiert. Doch die Erkenntnisse liegen nun offen, und Experten wie Alexander Nouri liefern klare Handlungsimpulse.
Die internationale Konkurrenz ist stark – und organisiert. Doch Deutschland hat ebenfalls Ressourcen, Talent und Know-how. Wenn Förderprogramme, Klubphilosophien und Ausbildungspfade künftig stärker auf individuelle Entwicklung und Nachhaltigkeit ausgerichtet sind, ist eine Rückkehr zur Weltspitze möglich.
„Mit einem bewussten Fokus auf Entwicklung statt auf sofortige Resultate kann Deutschland seine Nachwuchsförderung modernisieren – und die nächste Generation wieder international konkurrenzfähig machen“, sagt Nouri zum Schluss. Es liegt an den Verbänden, Vereinen und Trainern, diesen Weg konsequent zu beschreiten.