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Homosexualität im Profi-Fußball – das letzte große Tabu?

Der Profi-Fußball gilt als Spiegel gesellschaftlicher Normen – und als einer der konservativsten. In den vergangenen Jahren ist die Debatte über sexuelle Vielfalt im Sport sichtbarer geworden, nicht zuletzt durch das neue Buch und die aktuellen Aussagen von Marcus Urban, der sagt: „Es gibt schwule Paare in der Bundesliga.“ Diese Feststellung zeigt, wie sehr das Thema längst auf der Agenda steht, auch wenn die Bühne für aktive Outings im Männerfußball weiterhin klein bleibt.

Die Lage heute: mehr Offenheit – aber kaum sichtbare Outings

Formal ist vieles besser geworden: Verbände, Ligen und viele Vereine betonen Diversität, es gibt Anti-Diskriminierungsinitiativen und Informationsmaterialien für Vereine. Dennoch ist die reale Situation ambivalent: Während die öffentliche Unterstützung durch Institutionen wächst, finden Outings aktiver Profis im Männerfußball nur sehr selten statt. Initiativen und Kampagnen sorgen zwar für Symbolik, konkrete, sichtbare Beispiele prominenter, aktiver Spieler sind jedoch weiterhin die Ausnahme.

Marcus Urban: Pionier, Aktivist und die gescheiterte Idee eines Massen-Outings

Marcus Urban, selbst ehemaliger Jugendnationalspieler und einer der ersten öffentlich bekannten geouteten Fußballer in Deutschland, hat das Thema in den letzten Monaten erneut in die Medien gebracht. Urban organisiert Vernetzungen und hatte den 17. Mai – den Internationalen Tag gegen Homophobie – als möglichen Tag für ein Gruppen-Coming-Out genannt. An diesem Tag kam es jedoch nicht zu einer kollektiven Offenbarung aktiver Profis; Urban erklärt das mit dem hohen Druck aus dem Umfeld der Spieler und der Angst vor den Konsequenzen. Sein nüchterner Befund: Es gibt Spieler, die in Beziehungen leben, ohne diese öffentlich sichtbar zu machen – ein «offenes Geheimnis», das die Unsichtbarkeit zementiert.

Historische und internationale Beispiele

Die Geschichte zeigt, dass Outings möglich sind – aber häufig mit hohen persönlichen Kosten verbunden waren. Justin Fashanu ist als historischer Fall bekannt: Er war in den 1990er Jahren der erste prominente Profi in England, der sich als schwul outete; sein Leben endete tragisch. In Deutschland machte Thomas Hitzlsperger 2014 nach dem Karriereende mit einem Coming-out Schlagzeilen; er sagte damals, er wolle „die Debatte über Homosexualität unter Sportprofis voranbringen“. Solche Schritte haben Symbolkraft, doch sie finden oft erst nach dem Karriereende statt.

In jüngerer Zeit gibt es Beispiele aktiver Spieler, die – zumindest in bestimmten Ligen oder Teams – offen mit ihrer Sexualität leben: Collin Martin (USA) machte 2018 öffentlich, dass er schwul ist; Josh Cavallo (Australien) outete sich 2021 als aktiver Erstliga-Spieler und wurde damit zu einem der sichtbarsten Vorbilder. Diese Fälle sind wichtig, weil sie zeigen: Outings sind möglich, aber sie sind noch immer eine Ausnahme und mit Risiken verbunden.

Frauen- versus Männerfußball: Warum lesbische Sichtbarkeit leichter fällt

Ein auffälliger Unterschied besteht zwischen den Geschlechtern: Im Frauenfußball sind lesbische und bisexuelle Spielerinnen deutlich sichtbarer – das gilt auf Klub- wie auf Nationalmannschaftsebene. Großereignisse der Frauen-Nationalteams haben in den letzten Jahren eine hohe Dichte an offen sichtbaren LGBTQ-Spielerinnen hervorgebracht; die Sport- und Fankultur dort ist oft offener und normalisierender. Wissenschaftliche und journalistische Analysen führen das auf mehrere Faktoren zurück: die andere Geschlechterdynamik im Frauen-Sport, geringerer Druck traditioneller Männlichkeitsbilder und eine Fan- und Öffentlichkeit, die sexuelle Vielfalt im Frauenturnier häufiger als selbstverständlich wahrnimmt.

Institutionelle Initiativen: Von Broschüren bis zu Kampagnen

Verbände und Ligen reagieren mit Programmen und Materialien: Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat Informationsbroschüren zum Thema „Fußball und Homosexualität“ veröffentlicht, und die Deutsche Fußball Liga (DFL) betreibt regelmäßig Kampagnen für Vielfalt und gegen Hass. Auch Projekte wie „Football for Diversity“ und lokale Anlaufstellen (z. B. Team Out and Proud) arbeiten daran, Vereine zu sensibilisieren und Strukturen für Betroffene zu schaffen. Solche Maßnahmen sind wichtig, weil sie den Rahmen schaffen, in dem Spieler persönlicher Schutz und Unterstützung finden können.

Warum Outings selten sind: Psychologie, Ökonomie und Milieu

Mehrere Barrieren halten Profis davon ab, offen über ihre sexuelle Identität zu sprechen. Dazu zählen: die Angst vor homophoben Reaktionen in Kabinen, Unsicherheit über Reaktionen von Fans und Sponsoren, mediale Übersexualisierung privater Beziehungen und der Druck, das „Team-Bild“ nicht zu stören. Forschungen zeigen, dass heteronormative Männlichkeitsvorstellungen im Männerfußball weiterhin stark sind und damit zahlreiche Mechanismen der Unsichtbarmachung stärken.

Diese strukturellen Risiken sind real: Offene Spieler berichten von Hass- und Drohbotschaften. Josh Cavallo etwa, der 2021 öffentlich wurde, berichtet später über massiven Hass, bis hin zu täglichen Todesdrohungen – ein Hinweis darauf, wie viel persönlicher Preis mit Sichtbarkeit verbunden sein kann, selbst wenn Verein und Verband unterstützend reagieren. Solche Erfahrungen wirken abschreckend und erklären, warum viele Profis lieber anonym bleiben.

Zitate und Stimmen

„Es gibt schwule Paare in der Bundesliga.“ — Marcus Urban.

Dieser kurze Satz von Urban fasst das Paradox gut zusammen: Die Realität existiert, die Öffentlichkeit nimmt sie aber nur teilweise wahr. Thomas Hitzlsperger äußerte nach seinem Coming-out, dass er es für wichtig halte, die Debatte voranzubringen; Collin Martin und Josh Cavallo schildern, wie gegenseitige Unterstützung durch Team und Verein helfen kann, aber auch, wie verletzlich ein Outing macht.

Konkrete Handlungsempfehlungen für Vereine und Verbände

  • Systematische Sensibilisierung: Anti-Diskriminierungs-Workshops für Profis, Trainer und Mitarbeiter, integriert in die Ausbildung.
  • Schutz- und Anlaufstellen: Vertrauliche Beratungsangebote, unabhängige Ombudsman-Funktionen und digitale Meldewege für Hass und Drohungen.
  • Sichtbarkeit ohne Druck: Räume schaffen, in denen Spieler erzählen können, ohne dass ein öffentliches Coming-out erzwungen wird — Vorbilder fördern, aber nicht instrumentalisieren.
  • Medienarbeit und Sponsoren: Klare Regeln, wie Medien mit Outings umgehen, und Absicherung gegen ökonomische Nachteile für Spieler.

Viele dieser Vorschläge finden sich auch in bestehenden Programmen von DFB und DFL – wichtig ist nun die konsequente Umsetzung vor Ort, in Vereinen und Teams, nicht nur auf Kongressen und in PR-Kampagnen.

Ausblick: Sichtbarkeit als Normalzustand — aber wie?

Die nächste Etappe ist weniger spektakulär als ein Massen-Outing: Es geht darum, dass Sexualität im Alltag keine Nachricht mehr ist. Marcus Urban wünscht sich, dass Spieler im Stadion oder auf Pressefotos ganz selbstverständlich mit Partnern auftreten, ohne dass daraus eine Schlagzeile wird. Solche kleinen, alltäglichen Schritte würden die Normalisierung fördern und das Risiko mindern, das heute noch mit einem öffentlichen Coming-out verbunden ist. Institutionelle Unterstützung, mediale Zurückhaltung und Schutzmaßnahmen gegen Hass-Angriffe sind dafür Voraussetzungen.

Weiterhin eine Gratwanderung

Homosexualität im Profi-Fußball ist längst keine abstrakte Debatte mehr: Spieler leben in Beziehungen, Verbände sprechen sich für Vielfalt aus und lokale Initiativen arbeiten kontinuierlich an inklusiven Strukturen. Trotzdem bleibt die Situation eine Gratwanderung: Sichtbarkeit ist möglich, doch sie kostet – persönlich und medial. Der Weg aus dem Tabu führt über institutionelle Maßnahmen, Schutzmechanismen und eine kulturelle Normalisierung im Alltag des Fußballs. Solange diese strukturellen Bedingungen nicht verlässlich geschaffen sind, werden viele Profis den Schritt in die Öffentlichkeit scheuen. Die Herausforderung für die nächsten Jahre besteht darin, Sichtbarkeit nicht als Risiko, sondern als Normalität zu ermöglichen – durch konkrete Schutz- und Unterstützungsangebote sowie durch die schrittweise Entschärfung der heteronormativen Erwartungshaltungen im Männerfußball.

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