Die 50+1-Regel gehört zu den zentralen Besonderheiten des deutschen Profifußballs. Sie sichert die Stimmenmehrheit des Muttervereins an den ausgelagerten Kapitalgesellschaften der Profiabteilungen und stellt damit einen institutionellen Schutzmechanismus gegen eine vollständige Übernahme durch Investoren dar.
Der Grundgedanke: Fußballvereine sollen keine reinen Wirtschaftsgüter werden, sondern ihren sozialen und sportlichen Charakter bewahren. Doch die Regel steht seit Jahren unter Druck – rechtlich, politisch und wirtschaftlich. Jüngst hat das Bundeskartellamt am 16. Juni 2025 mit einem Gutachten deutlich gemacht: Die Regel bleibt grundsätzlich kartellrechtskonform, muss aber gerechter ausgestaltet werden. Das bedeutet: Die bestehenden Ausnahmen müssen beseitigt, Schlupflöcher geschlossen und die DFL stärker in die Pflicht genommen werden.
Historische Entwicklung
Die 50+1-Regel wurde 1999 von der Deutschen Fußball Liga (DFL) eingeführt, um die Kontrolle über die Profiabteilungen der Vereine bei deren Ausgliederung in Kapitalgesellschaften zu regeln. Ziel war es, wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen, ohne die Identität und Vereinsdemokratie aufzugeben. Hintergrund war u.a. die zunehmende Professionalisierung des Fußballs und die Öffnung für private Investitionen.
Allerdings entstanden früh Sonderregelungen. Der sogenannte „Lex-Leverkusen“-Passus ermöglichte es Unternehmen wie Bayer oder Volkswagen, die den jeweiligen Klub (Bayer 04 Leverkusen bzw. VfL Wolfsburg) „über 20 Jahre maßgeblich gefördert“ hatten, die Stimmenmehrheit zu übernehmen. 2015 erhielt auch die TSG Hoffenheim eine solche Ausnahme – Investor Dietmar Hopp durfte die Mehrheit übernehmen, weil er den Klub seit Jahrzehnten maßgeblich unterstützte.
Kritik wurde spätestens laut, als Martin Kind 2018 eine Ausnahme für Hannover 96 beantragte. Das Verfahren führte zu einer vertieften Prüfung der Regel durch das Bundeskartellamt. Die Auseinandersetzung offenbarte die Schwächen der bisherigen Praxis: Intransparenz, fehlende Einheitlichkeit und potenzielle Wettbewerbsverzerrung.
Funktion und Intention
Der ursprüngliche Sinn der 50+1-Regel war klar: Fußballvereine sollten sich nicht in Spielbälle von Investoren verwandeln. Die Mehrheit der Stimmrechte sollte bei den eingetragenen Vereinen bleiben, um demokratische Mitbestimmung zu sichern und eine Identifikation der Fans mit ihrem Klub zu garantieren.
Gleichzeitig verfolgt die Regel auch wirtschaftliche Ziele: Sie soll verhindern, dass durch unkontrollierte Geldzuflüsse einzelner Investoren ein finanzielles Wettrüsten entsteht. In einer Liga mit geteilten TV-Einnahmen und solidarischem Finanzausgleich sichert die Regel einen gewissen Wettbewerbsausgleich.
Im Vergleich zu anderen Ligen wie der englischen Premier League, in der Investoren ganze Klubs aufkaufen und als reine Kapitalanlagen nutzen, stellt die Bundesliga mit der 50+1-Regel eine Sonderstellung dar. Sie soll die „Vereinskultur“ vor dem Ausverkauf bewahren – mit sportlichem und gesellschaftlichem Nutzen.
Kritik und Herausforderungen
Trotz edler Absichten hat die 50+1-Regel auch Schattenseiten. Besonders kontrovers sind die Ausnahmeregelungen für einzelne Vereine wie Bayer Leverkusen, Wolfsburg und Hoffenheim. Diese Klubs verfügen über eine institutionell abgesicherte Investorenkontrolle – was von Wettbewerbern als ungerecht empfunden wird.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die strukturelle Umgehung der Regel. So wird etwa RB Leipzig immer wieder als Beispiel genannt: Der Klub ist formal ein e.V., doch seine Mitgliedschaft ist faktisch geschlossen – nur eine Handvoll stimmberechtigter Personen gehören dem Verein an. Kritiker sprechen von einer Aushöhlung der Regel durch formale Tricks.
Auch in der Praxis der Lizenzvergabe bestehen erhebliche Zweifel, ob die DFL die Einhaltung der Regel ausreichend kontrolliert. Das Beispiel Hannover 96 zeigte, dass es möglich war, faktische Kontrolle über die Profiabteilung auszuüben, ohne formell gegen 50+1 zu verstoßen. Die Unklarheit über Weisungsbefugnisse zwischen Verein und Kapitalgesellschaft ist ein systemisches Problem.
Bundeskartellamt: Aktueller Prüfstand
Am 16. Juni 2025 veröffentlichte das Bundeskartellamt seine lang erwartete Entscheidung: Die 50+1-Regel ist grundsätzlich mit dem Kartellrecht vereinbar – sofern sie einheitlich angewendet wird. Eine pauschale Ablehnung der Regel erfolgte nicht, wohl aber eine deutliche Mahnung: Die Ausnahmen müssen abgeschafft, die Regel transparenter und diskriminierungsfrei gestaltet werden.
Konkret fordert das Amt:
- Die Sonderregelungen für Leverkusen, Wolfsburg und Hoffenheim dürfen nicht dauerhaft bestehen bleiben.
- Alle Vereine müssen Mitgliedschaften offen gestalten – geschlossene Systeme wie bei RB Leipzig sind unvereinbar mit dem Gleichbehandlungsgebot.
- Die Kontrolle des e.V. über die Profiabteilung muss praktisch wirksam sein – nicht nur formal. Weisungsbefugnisse müssen nachweislich bestehen.
Das Kartellamt räumt eine Übergangsfrist ein, fordert aber eine aktive Reform durch die DFL. Diese müsse zeitnah sicherstellen, dass die Regel nicht nur auf dem Papier existiere, sondern auch tatsächlich umgesetzt werde.
Positionen und Reaktionen
Die Reaktionen auf das Gutachten fielen gemischt aus. Die DFL zeigte sich gesprächsbereit und erklärte, die Empfehlungen des Kartellamts eingehend prüfen zu wollen. Man erkenne den Handlungsbedarf an und wolle „in einem strukturierten Dialog mit allen Beteiligten“ Lösungen erarbeiten.
Bayer Leverkusen hingegen äußerte sich kritisch. Die Werkself sieht ihre Ausnahmegenehmigung als rechtlich fundiert und monierte, dass nun Jahrzehnte bestehende Strukturen infrage gestellt würden. Auch die TSG Hoffenheim stellte klar, dass man rechtlich gegen etwaige Rücknahmen vorgehen werde.
Faninitiativen und traditionsbewusste Kräfte begrüßten hingegen das Gutachten. Die „Pro 50+1“-Bewegung sprach von einem „dringend notwendigen Weckruf“, der dem Ausverkauf des Fußballs Einhalt gebiete. Martin Kind, langjähriger Kritiker der Regel, forderte hingegen erneut eine Liberalisierung und warnte vor internationaler Wettbewerbsverzerrung.
Bedeutung für die Zukunft
Die Entscheidung des Bundeskartellamts markiert eine Weggabelung für die Bundesliga. Einerseits wurde die Regel bestätigt – was Befürworter als Erfolg feiern. Andererseits ist klar, dass ohne Anpassung die Rechtssicherheit nicht dauerhaft bestehen bleibt. Die DFL muss die Regel nicht nur administrativ überarbeiten, sondern ihre Wirksamkeit aktiv sichern.
In Zeiten globaler Investorenströme und wachsender internationaler Konkurrenz (z. B. Saudi-Arabien, Premier League) stellt sich die Frage, wie wettbewerbsfähig die Bundesliga mit einer strukturell eingeschränkten Kapitalaufnahme bleiben kann. Zugleich zeigt das Beispiel FC Bayern München: Auch ohne Investorenmehrheit ist sportlicher und wirtschaftlicher Erfolg möglich.
Die Zukunft der 50+1-Regel hängt davon ab, ob es gelingt, ihren Geist – die Bewahrung der Vereinskultur – mit den Anforderungen eines modernen, finanzstarken Profisports zu verbinden.
Mögliche Nachbesserungen – Handlungsoptionen
Aus dem Gutachten des Bundeskartellamts lassen sich klare Reformansätze ableiten:
- Temporärer Bestandsschutz: Die Ausnahmen für Leverkusen, Wolfsburg und Hoffenheim könnten über eine befristete Übergangsregelung auslaufen.
- Einheitliche Mitgliedschaftsregeln: Alle Vereine sollten ihre e.V.-Strukturen öffnen – mit echter demokratischer Teilhabe.
- Stärkung der Vereinskontrolle: Die DFL sollte verbindlich regeln, wie der e.V. seine Weisungsbefugnisse gegenüber der Kapitalgesellschaft ausübt – inklusive Transparenzpflichten.
- Strikte Lizenzierungsstandards: Nur wer die 50+1-Regel wirklich erfüllt, sollte eine DFL-Lizenz erhalten – inklusive regelmäßiger Überprüfungen und Sanktionen bei Verstößen.
- Kommunikation und Monitoring: Eine ständige Arbeitsgruppe aus DFL, Vereinen, Fans und externen Juristen könnte für die Weiterentwicklung und Evaluation zuständig sein.
Ausdruck einer Fußballkultur
Die 50+1-Regel ist mehr als ein juristisches Konstrukt – sie ist Ausdruck einer Fußballkultur, die Gemeinschaft über Gewinnmaximierung stellt. Das jüngste Gutachten des Bundeskartellamts hat ihr eine juristische Legitimität verliehen, aber zugleich deutlich gemacht: Nur eine konsequent angewendete und einheitlich umgesetzte Regel hat Zukunft.
Für die DFL ist es nun entscheidend, zügig und transparent zu handeln. Der Weg zu einer reformierten 50+1-Regel führt über konsequente Gleichbehandlung, klare Strukturen und ehrliche Kommunikation. Nur so kann der deutsche Fußball seine Eigenständigkeit bewahren und zugleich zukunftsfähig bleiben – im Spannungsfeld zwischen Tradition und globaler Ökonomie.