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Kreuzbandriss – Epidemie im Frauen-Profifußball

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Im modernen Profifußball sind Verletzungen alltäglicher Bestandteil des Sports. Doch eine Verletzungsart sticht seit einigen Jahren besonders hervor: der Kreuzbandriss.

Während in den Männerligen bereits ein hohes Verletzungsrisiko besteht, ist das Problem im Frauenfußball noch alarmierender. Zahlreiche Studien, Spielerinnen und Ärztinnen schlagen Alarm: Die Häufigkeit von Kreuzbandverletzungen, insbesondere der Riss des vorderen Kreuzbandes, erreicht ein epidemisches Ausmaß.

„In keiner anderen Sportart sehen wir derart viele dieser schwerwiegenden Verletzungen“, erklärt Dr. Karin Lehner, Sportmedizinerin und Teamärztin eines Bundesligisten. Der Begriff „Epidemie“ fällt nicht mehr nur in den Medien, sondern auch im medizinischen Diskurs – und er ist nicht übertrieben.

Ist es wirklich eine Epidemie?

Eine Epidemie im klassischen Sinne bezeichnet ein massenhaftes Auftreten von Erkrankungen. Doch auch in der Sportmedizin wird der Begriff zunehmend verwendet, um auf alarmierende Häufungen hinzuweisen. Im Fall der Kreuzbandrisse sprechen Zahlen für sich: Laut einer Studie von FIFA Medical wurden bei Frauenfußballern rund 5 bis 8 Kreuzbandrisse pro 1000 Spielstunden festgestellt – eine Rate, die beim männlichen Pendant nur etwa bei einem Siebtel liegt.

Die norwegische Sportwissenschaftlerin Grethe Myklebust, eine führende Expertin für Verletzungsprävention, betont: „Kreuzbandrisse sind nicht nur häufig, sie hinterlassen auch psychisch und körperlich oft irreparable Schäden bei jungen Spielerinnen.“ Angesichts der hohen Ausfallzeiten und der Rückfallgefahr sprechen viele Sportärzte mittlerweile von einer strukturellen Gesundheitskrise im Frauenfußball.

Prominente Einzelfälle – wenn Karriere und Körper zerbrechen

Besonders deutlich wird die Problematik an prominenten Beispielen: Vivianne Miedema, Starstürmerin des FC Arsenal und Rekordtorschützin der Niederlande, zog sich 2022 im Champions-League-Spiel gegen Lyon einen Kreuzbandriss zu. „Es ist schwer zu beschreiben, wie sehr mich das aus der Bahn geworfen hat“, sagte Miedema rückblickend in einem Interview mit The Athletic. Nur ein Jahr zuvor erlitt ihre Freundin und Teamkollegin Beth Mead dieselbe Verletzung.

Auch in Deutschland reihten sich Verletzungen aneinander: Kim Fellhauer, einstige Hoffnungsträgerin bei Hoffenheim, beendete 2022 im Alter von nur 26 Jahren ihre Karriere – nach dem dritten Kreuzbandriss. „Ich habe meinem Körper zu viel zugemutet“, schrieb sie in einem bewegenden Instagram-Post. Auch Hasret Kayikçi, langjährige Stürmerin des SC Freiburg, musste nach mehreren Kreuzbandrissen den Leistungssport verlassen.

Ursachen und Risikofaktoren

Anatomisch-physiologische Unterschiede

Eine der zentralen Ursachen liegt in der Anatomie: Frauen haben im Durchschnitt ein breiteres Becken und damit einen stärkeren Q-Winkel (Winkel zwischen Hüfte und Knie), was zu einer erhöhten Belastung auf das Kniegelenk führt. Auch muskuläre Unterschiede spielen eine Rolle – insbesondere bei der Oberschenkel- und Rumpfstabilität.

„Viele Spielerinnen kompensieren fehlende Kraft im Rumpf mit falschen Bewegungsmustern“, erklärt Dr. Heike Bischoff-Ferrari, Sportorthopädin an der Universität Zürich. Hinzu kommen Unterschiede in der neuromuskulären Kontrolle. Männer nutzen in der Regel verstärkt die Muskulatur im hinteren Oberschenkel (Hamstrings), die das Knie stabilisieren, während Frauen häufiger die vordere Oberschenkelmuskulatur (Quadrizeps) beanspruchen – was das Risiko für abrupte Stoppbewegungen und Drehbewegungen erhöht.

Hormonelle Schwankungen und Zyklusphasen

Ein lange unterschätzter Faktor ist der weibliche Hormonhaushalt. Studien belegen, dass das Risiko für Kreuzbandrisse während bestimmter Zyklusphasen deutlich steigt – vor allem in der späten Follikelphase kurz vor dem Eisprung. Hier beeinflusst ein Anstieg des Hormons Östrogen die Elastizität von Bändern negativ.

„Wir konnten nachweisen, dass sich das Bindegewebe in der zweiten Zyklushälfte weicher und anfälliger zeigt“, so Dr. Sandra Königstein von der Universität Leipzig, die eine Langzeitstudie mit Erstligaspielerinnen leitete. Dennoch werden Trainingspläne in vielen Vereinen nach wie vor unabhängig vom Zyklus gestaltet – ein Umstand, den viele Expertinnen kritisieren.

Externe Faktoren: Infrastruktur und Spielbelastung

Während Männerfußball längst auf optimalen Trainingsbedingungen basiert, fehlt es im Frauenbereich vielerorts an adäquaten Ressourcen: weniger medizinische Betreuung, eingeschränkte Krafträume, unzureichende Regeneration. Kunstrasenplätze, wie sie vor allem in unteren Ligen dominieren, stellen ebenfalls ein erhöhtes Risiko dar.

Dazu kommt die immense Belastung durch internationale Turniere, Liga- und Pokalspiele in enger Taktung. „Wir haben manchmal vier Spiele in zwei Wochen – ohne die medizinische Versorgung, die unsere männlichen Kollegen haben“, klagt eine Bundesligaspielerin anonym im RND-Interview.

Auswirkungen auf Karriere und Vereine

Ein Kreuzbandriss bedeutet in der Regel eine Pause von sechs bis neun Monaten – bei Komplikationen deutlich länger. Doch selbst nach der Rückkehr bleibt das Risiko eines erneuten Risses stark erhöht. Studien sprechen von einer bis zu 40-fach höheren Rückfallrate bei bereits verletzten Spielerinnen.

Für die betroffenen Frauen ist das nicht nur körperlich, sondern auch psychisch belastend. Viele fallen in Depressionen, einige müssen den Profisport beenden. Die finanziellen und strukturellen Folgen für Vereine sind ebenso gravierend: Der Ausfall von Leistungsträgerinnen beeinflusst Ergebnisse, Planung und Kaderstruktur.

Präventionsstrategien – Hoffnung durch Wissenschaft

Training im Einklang mit dem Zyklus

Pionierarbeit leistet der FC Carl Zeiss Jena. Dort wird das Training nach den individuellen Zyklusphasen der Spielerinnen gestaltet. Trainerin Anne Pochert erklärt: „Wir sehen weniger muskuläre Probleme, und unsere Kreuzbandverletzungen sind seit der Umstellung ausgeblieben.“ Dieses Modell könnte Schule machen.

Neuromuskuläre Trainingsprogramme

Gezielte Präventionsübungen wie das FIFA-11+ Programm zeigen messbaren Erfolg. Propriozeptive Übungen, gezieltes Warm-up, Stabilisations- und Sprungkontrolle reduzieren das Risiko deutlich. Eine Meta-Analyse der Cochrane Library ergab, dass systematische Prävention das Auftreten von Kreuzbandrissen um bis zu 50 % senken kann.

Technologieeinsatz und Big Data

Einige Topclubs nutzen mittlerweile Sensoren, GPS-Daten und maschinelles Lernen, um das Verletzungsrisiko in Echtzeit vorherzusagen. Das Projekt „SoccerGuard“ an der ETH Zürich entwickelt KI-gestützte Modelle, die Spielerprofile analysieren und präventive Maßnahmen vorschlagen.

Strukturelle, politische und wirtschaftliche Aspekte

Die gesundheitliche Krise im Frauenfußball ist auch ein strukturelles Problem. Solange Spielerinnen ihre Karriere mit Studium oder Nebenjobs finanzieren müssen, bleibt die Regeneration auf der Strecke. Es braucht Investitionen in medizinisches Personal, bessere Trainingsstätten und Forschungsförderung.

„Gesundheit darf nicht vom Budget abhängen“, sagt DFB-Vizepräsidentin Sabine Mammitzsch. Auch FIFA und UEFA haben Programme angekündigt, um Verletzungsprävention speziell im Frauensport zu fördern. Doch viele Initiativen stecken noch in der Pilotphase.

Ausblick und Handlungsempfehlungen

Um der „Epidemie“ effektiv entgegenzuwirken, braucht es einen systematischen, interdisziplinären Ansatz. Dieser umfasst:

  • Individuelle Trainingssteuerung unter Einbezug hormoneller Faktoren
  • Verpflichtende neuromuskuläre Prävention im Trainingsalltag
  • Investitionen in medizinische Infrastruktur und Betreuung
  • Datengetriebene Überwachung der Belastung

Langfristig könnte auch ein verpflichtender Standardkatalog für Erst- und Zweitligisten helfen, wie er bereits in einigen skandinavischen Ländern diskutiert wird.

Eine systemrelevante Herausforderung

Der Kreuzbandriss ist im Frauenfußball zu einer systemrelevanten Herausforderung geworden – mit tiefen Auswirkungen auf die Gesundheit der Spielerinnen und die sportliche Entwicklung ganzer Teams. Die medizinischen, hormonellen und strukturellen Ursachen sind komplex, aber wissenschaftlich zunehmend verstehbar. Die Mittel zur Prävention existieren – was fehlt, ist ihre konsequente und flächendeckende Umsetzung.

„Es geht nicht nur um Fitness. Es geht um Sicherheit, Fairness und die Zukunft des Frauenfußballs“, so bringt es Sportwissenschaftlerin Myklebust auf den Punkt. Die Frage ist nicht mehr, ob wir handeln müssen – sondern wie schnell.

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